Verfasser:
Thomas Wüst
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Geopolitik und ESG-Kriterien – Zeitenwende an den Finanzmärkten

Geopolitik und ESG-Kriterien – Zeitenwende an den Finanzmärkten

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die jüngsten Eskalationen seitens China in Richtung Taiwan haben gezeigt, wie wichtig geopolitische Einschätzungen auch für Investoren sind. Länderrisiken spielen bei der Gewichtung von Anlagen in einem Portfolio eine immer wichtigere Rolle. Investoren dürfen sich nicht mehr alleine auf Finanzkennzahlen und ESG-Ratings auf Unternehmensebene verlassen. Dringend erforderlich ist in eine Erweiterung um einen risikobasierten ESG-Ansatz bei der Beurteilung von Länderrisiken.

Am Jahresanfang schien die Investmentwelt noch einigermaßen in Ordnung: China kam jenseits der hausgemachten Probleme am Immobilienmarkt besser durch die Coronaviruspandemie als viele andere Länder. Russland hatte mit dem Verkauf von Ressourcen ein stabiles, wenn auch wenig zukunftsträchtiges Geschäftsmodell bei überschaubarer Verschuldung und wurde dafür von den Ratingagenturen mit einem Investment Grade-Rating belohnt. Verbunden mit Negativzinsen in der Eurozone führte dies im Falle von Russland dazu, dass Euro-Anleihen russischer Emittenten bei Managern einiger Rentenfonds äußerst beliebt waren. Mit einem attraktiven Renditeaufschlag zu Anleihen von Industrienationen und einem Investment Grade-Rating ließen sich die Fondskennzahlen, wie die durchschnittliche Rendite auf Endfälligkeit, eines Anleiheportfolios aufhübschen.
Im Aktiensegment galt ähnliches für russische und – jedoch wegen der deutlich höheren Marktkapitalisierung umso mehr für – chinesische Titel, die mit einem zum Teil deutlichen Bewertungsabschlag zu anderen Aktienmärkten notierten und dadurch preiswert erschienen. Im Vergleich zu den hohen Bewertungen in den Aktienmärkten der Industrienationen erschienen Investments in diese Marktsegmente vordergründig verlockend.
Während Investoren in chinesischen Assets bislang noch mit einem blauen Auge davongekommen sind, sehen sich Investoren in russischen Assets seit dem 24.02.2022 aufgrund der Sanktionen im Finanzsektor mit illiquiden Anlagen in ihren Portfolien konfrontiert, die ihnen zudem deutliche Verluste eingebrockt haben – bei gänzlich ungewissen Zukunftsperspektiven. Ein größerer Schaden an den Finanzmärkten wurde dadurch vermieden, dass Russland an den internationalen Kapitalmärkten kein großer Player war und viele Akteure, vor allem Banken, seit der Krim-Annexion 2014 und den damit verbundenen Sanktionen ihre dortigen Geschäfte reduziert haben.
Fraglich ist jedoch, ob Investoren und Unternehmen aus der jüngsten Eskalation von China im Taiwan-Konflikt die gleichen Lehren ziehen wie damals nach der russischen Krim-Annexion im Jahr 2014. Klar muss allen Beteiligten sein: China finanziert seine militärische Aufrüstung durch seine Handelsüberschüsse. Egal ob China 2024 oder erst 2028 zur größten Wirtschaftsmacht der Welt werden wird: seine militärischen Optionen, die derzeit noch schwächer als die der USA eingeschätzt werden, werden ebenfalls ausgebaut. Der militärische Konflikt mit Taiwan scheint nur eine Frage der Zeit.
Investoren sind also gut beraten, sich zu fragen, ob Anlagen in hiesige Unternehmen, die einen hohen Umsatzanteil in China erwirtschaften, als nachhaltig eingestuft werden können. Von Direktinvestments in chinesische Unternehmen, die sehr stark von den politischen Risiken Chinas abhängen, ganz zu schweigen. Bei dieser Nachhaltigkeits-Diskussion stehen wir erst ganz am Anfang – sie muss aber geführt werden. Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine hat gezeigt: es lohnt sich, möglichst früh ESG-Risikofaktoren auf Länderebene bei der Auswahl von Assets zu berücksichtigen!
Thomas Wüst