Verfasser:
Thomas Wüst
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Die wohlfeile Inflationsdebatte

Bei der Inflationsdiskussion des vergangenen Jahres gab es drei Lager: So gab es Ökonom*innen, die mit viel Akribie, Mühe und Aufwand die Einflussfaktoren auf die Inflationsentwicklung des vergangenen Jahres in ihre Einzelteile zerlegten und zum Ergebnis kamen, dass viele der inflationstreibenden Faktoren auf Einmaleffekten (Wegfall der Mehrwertsteuersenkung 2020, Basiseffekte in Bezug auf Pandemiejahr 2020, Nachfrageimpuls nach Ende der Lockdowns, Lieferkettenprobleme usw.) basierten, weshalb der Inflationsanstieg des Jahres 2021 vorübergehend sei. Eine Auffassung, die bekanntermaßen auch die EZB vertrat.

Daneben gab es auch Ökonom*innen, die auf langfristige Inflationstreiber (Protektionismus bzw. Deglobalisierung, Demografie, grüne Transformation, usw.) hinwiesen und zur Achtsamkeit in Bezug auf die Inflationsentwicklung aufriefen. Sie forderten jedoch ein besonnenes Vorgehen der EZB auf dem Weg zu einer restriktiveren Geldpolitik, um nicht das kleine Flämmchen des leichten konjunkturellen Aufschwungs im Keim zu ersticken. Eine Hyperinflation wurde in deren Szenario nicht prognostiziert.

Dann gab es noch das „Gelddrucken der EZB“-Lager, in dem nach Gefühl verkürzt argumentiert wurde, dass eine höhere Geldmenge ja gewissermaßen automatisch inflationstreibend sei, weshalb die Inflation nun kein vorübergehendes, sondern ein langfristiges Phänomen wäre. Dabei ist die Geldmenge nur ein Faktor von vielen, der sich auf die Inflationsentwicklung auswirken kann – keineswegs muss. Flussgrößen, wie die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes, sind für die Entstehung von Inflation ebenfalls sehr wichtig. Auch ist für die Bekämpfung von Inflation entscheidend, ob eine Inflationsentwicklung überwiegend nachfragebedingt oder – wie derzeit hauptsächlich – angebotsbedingt ist. Differenzierung ist also gefragt. So hat Lagarde am 8. September auf der Pressekonferenz zur Zinssitzung der EZB klargestellt, dass die EZB die Energiepreise nicht direkt beeinflussen kann, sondern dies im Falle von Marktverwerfungen von politischer Seite erfolgen muss.

Angesichts der eingebrochenen Zinsmarge im Einlagengeschäft in der Phase von Negativzinsen, war es im vergangenen Jahr wenig erstaunlich, dass es hauptsächlich Vertreter*innen von Banken waren, die eine schnelle Zinserhöhung der EZB forderten. So sind Banken in Phasen steigender Leitzinsen die Profiteure schlechthin, da sie in dieser Phase ihre Zinsmarge ausweiten können – von der Subvention der dadurch noch attraktiver werdenden TLTRO-Geschäfte ganz zu schweigen. Dieser Interessenkonflikt wird bei uns medial überhaupt nicht wahrgenommen, wenn Vertreter*innen von Banken zur EZB-Geldpolitik interviewt werden. Daneben bedienten sich die üblichen Angstverkäufer des „Gelddrucken der EZB“-Lagers ebenfalls der Hyperinflations-These. Das übliche Spiel mit der German Angst, über das sich sachwertorientierte Finanzprodukte so leicht verkaufen lassen.

Jeder kann sich nun vorstellen, welche der Lager aktuell mit „Ich habe es ja schon immer gesagt“-Thesen jubeln. Doch was ist daran wohlfeil? Die Zeitenwende des Ukraine-Krieges war für die Entwicklung der Inflationsrate ein Gamechanger, da er die Ausgangslage der ursprünglichen Prognose der Ökonom*innen, die die Inflation als vorübergehende Entwicklung analysierten, grundlegend verändert hat (steigende Energiepreise und über Zweitrundeneffekt auch steigende Nahrungsmittelpreise sowie erneute Logistikprobleme). Nun argumentieren viele Protagonisten der dauerhaften Inflationsthese besonders wohlfeil, wenn sie behaupten, dass die Energiepreise ja bereits vor dem Ausbruch des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24.02.2022 gestiegen seien. Dabei unterschlagen sie die Tatsache, dass der Aufmarsch der russischen Truppen an der Grenze zur Ukraine bereits im Laufe des Jahres 2021 erfolgte, wodurch eine Drohkulisse entstand, die sich bereits zu diesem Zeitpunkt belastend auf die Energiemärkte auswirkte. Die Debatte um die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 belegt dies, hat Olaf Scholz doch bereits im November 2021 die Entscheidung getroffen, die Zertifizierung der Pipeline auszusetzen. Nur ging damals so gut wie kein Analyst – auch so gut wie kein Vertreter der dauerhaften Inflationsthese – davon aus, dass Putin tatsächlich seine Drohung des Überfalls der Ukraine wahrmachen würde.

Ökonom*innen, die im Jahr 2021 einen hohen Aufwand betrieben haben, um die Einflussfaktoren auf die Inflationsentwicklung zu analysieren, und auf Basis einer nachvollziehbaren Analyse zum Ergebnis einer nur vorübergehenden Inflationsentwicklung kamen, werden in sozialen Medien nun als „Idioten“ diffamiert. Dass deren ursprünglichen Annahmen zur Inflationsentwicklung durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine über den Haufen geworfen wurden, wird dabei natürlich unterschlagen, würde diese Tatsache doch die billige Stimmungsmache dieser Trolle untergraben.

Auch in der Coronaviruspandemie war es ein beliebtes Stilmittel der Troll-Fraktion in sozialen Medien, Virolog*innen mit Aussagen aus früheren Zeiten zu konfrontieren, zu denen aktuelle Forschungsergebnisse oder gar Impfstoffe noch überhaupt nicht vorlagen. Ursprüngliche Prognosen sind bei veränderten Ausgangslagen (z.B. Entwicklung der Impfstoffe oder russischer Angriffskrieg auf die Ukraine) ein wahrer Honigtopf für verkürzte Debattenbeiträge zur Stimmungsmache im Netz. Es steht dabei viel auf dem Spiel, wie z. B. das Vertrauen in Institutionen (EZB!), und Medien wären gefordert, hier für die notwenige Differenzierung zu sorgen, was aber leider so gut wie überhaupt nicht geschieht. Es ist sogar in meiner Wahrnehmung eher das Gegenteil der Fall, was das EZB-Bashing in vielen Medienberichten belegt.

Prognosen sind daher immer einem Disclaimer unterworfen und müssen regelmäßig überprüft werden, inwieweit sich ihre Rahmendaten durch Einflüsse von außen nicht grundlegend verändert haben. Gerade in einer Kriegswirtschaft werden Prognosemodelle schnell zur Makulatur. Für den Umgang mit Prognosen braucht es daher Kompetenz und Aufklärung mittels einer differenzierten Sicht, gerade wenn sie nicht eingetreten sind. Selbstverständlich gibt es auch Fehlprognosen, die auf Basis falscher Annahmen, die zum Zeitpunkt der Prognosen bekannt waren, zustande kamen. Diese lassen sich mittels einer sauberen Analyse identifizieren – die (Fehl-)Prognose einer nur vorübergehenden Inflationsrate aus dem vergangenen Jahr gehört derzeit jedoch wahrlich NICHT in diese Rubrik!

Inwieweit demographische Entwicklungen oder Deglobalisierung langfristig zu einer erhöhten Inflationsrate führen, ist nach wie vor völlig offen. So hängt der künftige Grad der Deglobalisierung von den weiteren geopolitischen Entwicklungen ab (z.B. China-Taiwan-Konflikt). Die Effizienzgewinne durch einen höheren Automatisierungsgrad und dem Einsatz von künstlicher Intelligenz stehen einem zunehmenden Arbeitskräftemangel gegenüber, ebenso wie die Effizienzgewinne aus höheren Nachhaltigkeitsstandards, was z.B. Energie- und Ressourcenverbrauch anbelangt, den Kosten der grünen Transformation. Aber für diese differenzierte Betrachtung ist in der aktuellen Inflationsdebatte medial viel zu oft viel zu wenig Platz, bringt doch verkürztes EZB-Bashing mittels der verkürzten „Gelddrucken“-These einfach mehr Klicks.

Wozu solche verkürzten Debatten führen, in denen europäischen Institutionen der schwarze Peter für eigene nationale Versäumnisse (z.B. verzögerte Energiewende, Abhängigkeit von Russland, Klumpenrisiken bei Versorgern usw.) zugeschoben wird, wird leider an einem Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit deutlich: dem Brexit. Diejenigen politischen Kräfte, welche die EU bzw. den Euro schwächen möchten, haben jedenfalls ihre Freude an unserer derzeitigen wohlfeilen Inflationsdebatte!!!

Thomas Wüst